Queer

Meine Geschichte – ein Brief an eine Freundin

Liebe S.,

danke für deine Fragen – ich wusste immer, dass ich „anders“ bin, aber ich hatte lange keine Worte dafür… und ja, es gab einen Auslöser, der dazu führte, dass ich vor etwa 3 Jahren zur Erkenntnis kam, ich bin queer und das ist gut so.

Wie gesagt, ich wusste immer, dass ich anders bin… als ganz kleines Kind im Strandbad Thun habe ich mich geweigert, „ds tote Manndli“ zu machen und die Lehrperson meinte dann: „de mach halt ds tote Froueli“… ich hätte extrem gerne einen Schulsack mit Fell gehabt, aber das durften nur die Buben… ich glaube, meiner war bordeaux rot und auch in der 2. Klasse bekamen die Buben einen blauen Füller und die Mädchen einen roten – ich hätte lieber einen blauen gehabt.Mein Bruder durfte mit unseren Puppen spielen – aber ich durfte nicht mit seinen technischen Spielsachen spielen. Bis zur 7. Klasse war ich in Thun in der „Meitliseck“ und hatte Latein, Französisch, Englisch – aber Physik gefiel mir besonders. Ich habe dem Lehrer beigebracht, wie er den Videorekorder programmieren kann…


In der 8. Klasse kam ich ins Progymnasium – mit den Buben zusammen… in den Sprachfächern waren wir im gleichen Buch weiter vorne gewesen… in der 1. Physikstunde sagte der Lehrer, er brauche 2 Assistenten, um Dinge auf- und abzubauen… wir sollten uns nach der Stunde melden. Am Schluss der Stunde waren 9 Jungs und ich vorne und er meinte, er beantworte schnell meine Frage und wähle dann die Physikhelfer aus – ich war entrüstet und sagte: „Ich habe keine Frage, ich will Physikhelfer werden“… er war geschockt aber nahm dann mich und einen der Jungs… ich habe halt in der „Meitlisek“ nicht gelernt, dass Mädchen Physik nicht können. Das beste am Progy war, dass ich kein Handarbeiten mehr hatte… und auch kein Kochen… das lernte ich dann später in der Praxis, als ich studierte…

Im Theologiestudim habe ich darunter gelitten, Fräulein genannt zu werden – warum braucht es einen Mann, um eine Frau zu sein? Ein Dozent hat die Männer mit „Bruder“ angesprochen – für meine Mitstudenten war ich dann „Bruder Anno“… und einer hat die Dozenten gebeten, mich mit Frau anzusprechen – der Boss hat es zwar verboten, aber sie haben es gemacht, wenn er es nicht hörte… und auch Schwester war dann eine Anrede, und einer nannte mich sogar „Oberschwester mit der glockenhellen Stimme“… ich war der einzige „weibliche Bruder“ im Abschlussjahrgang…


Ich habe immer „Geschwister“ gelesen, wenn im Text Brüder stand (für die Gemeinde) – das griechische Wort bedeutet „zusammen im Mutterleib gewesen“ – ich meine, man wusste ja nicht immer, wer der Vater ist… ich sagte, es gibt Menschen, männliche und weibliche, aber das trennende ist doch viel kleiner als das verbindende… ich habe ein X Chromosom mehr und ihr dafür ein Y (wobei getestet habe ich es nie) – also 45 gleiche und ein anderes… auch auf anderen Unterschieden wurde rumgehackt, Kinder- oder Grosstaufe, Landes- oder Freikirche – wir sind doch alles Menschen, die an Christus glauben…

Theologisch „wusste“ ich , dass Homosexualität schlecht ist, wie „schlimm“ sie leben und dass Aids die „Strafe“ ist – wobei ich glaub schon damals dachte, es sei allenfalls eine Konsequenz – wenn Gott alle Sünden „sofort“ mit dem Tod strafen würde, gäbe es schon lange keine Menschen mehr auf dieser Erde und über Geiz und Fremdenfeindlichkeit seht viel mehr in der Bibel als über Schwule. Ich habe mich gefreut über die Ehering Plakate „Treue schützt vor Aids“ aber geärgert, dass gewisse Leute Kondome verbieten wollten… eingene Werte und Regeln dürfen in einer säkularen Demokratie nicht allen anderen übergestülpt werden.

Später lernte ich dann Homoxexuelle kennen… und irgendwie klafften Leben und Dogma auseinander. Ich erinnere mich an eine Begegnung mit einem Frauenpaar und es beeidruckte mich, wie sie miteinander umgingen, ohne diesen „Geschlechterkrieg“ in vielen Beziehungen und ich weiss noch, wie ich spontan dachte: „Ich will auch lesbisch sein“ – wie wenn man sich das wählen könnte…

Mir als predigender Frau wurden ja oft Bibelstellen um die Ohren gehauen, ich bekam  als Studentin auch ein Bild, auf dem ich auf dem brennenden Scheiterhaufen stehe unter der Überschrift „Der Platz aller predigenden Frauen“… aber meine Stellung zur Homosexualität änderte sich unmerklich und bevor ich selber wusste, dass ich auch zur Regenbogengemeinschaft gehöre.

Der Auslöser für mein Coming Out war eine Veranstaltung, bei der ich übersetzte. Geschrieben hat den Text ein SVP Politiker, vorgetragen hat ihn eine Frau (er war krank) und ich musste ihn zum Glück nur zusammenfassen auf Englisch (um Zeit zu sparen). Es ging darum, dass Gender (falsch ausgesprochen) vom Teufel ist, dass Kinderkrippen vom Teufel sind und Homosexuelle in die Hölle kommen… ich stand also auf der Bühne, versuchte meine Pflicht zu tun und gleichzeitig hatte ich körperliche Schmerzen und betete: „Jesus, vergib mir, wie ich über deine Kinder reden muss.“ Die Menge johlte und klatschte und freute sich und ich wusste, dass statistisch in dieser grossen Gruppe Menschen sind, die so empfinden und jetzt hören müssen, wie sie in die Hölle geschickt und das bejubelt wird…. Ich beendete dieses Slot, ging zum Veranstalter und sagte, dass ich nie mehr zur Verfügung stehe (und es war einer meiner bestbezahlten Aufträge) und auf dem Heimweg im Zug googelte ich Gender Studies. Ich wollte wissen, was das denn ist… und im Zuge meiner Lektüre (in den kommenden Monaten) stiess ich auf den Begriff non-binär und merkte, genau das bin ich – weder männlich noch weiblich, irgendwie beides oder nichts oder abwechselnd… nicht zwingend körperlich, aber Gender ist eben nicht zwischen den Beinen, sondern im Kopf…

Ich habe dann „queere Christen“ gegooglet und bin auf Zwischenraum gestossen. Dort habe ich Menschen kennengelernt, die schwul, lesbisch oder trans sind und als überzeugte Christ_innen leben… viele von ihnen sind durch Konversionstherapien gegangen, einige haben Ehen mit einem andersgeschlechtlichen Partner hinter sich, zum Teil mit Kindern –  bis sie es nicht mehr aushielten, ein Doppelleben zu führen… Durch den Abstimmungskampf zum 9.2.2020 (Antidiskriminierungsgesetz) lernte ich auch Menschen aus der Community kennen, die nicht gläubig sind… und als es um die Abstimmung „Ehe für alle“ ging, die ja vor allem aus „christlichen“ Gründen bekämpft wird, war mir klar, dass ich als queere Theologin nicht schweigen darf.

Ich habe ein T-Shirt, auf dem steht „Bad Theology Kills“ – die Suizidrate bei queeren Jugendlichen ist mindestens doppelt so hoch, bis vier- oder fünfmal.. und nicht weil sie queer sind, sondern wegen der Ablehnung. Ein Freund von mir hat ein Buch geschrieben, das so heisst, und ich trage dieses T-Shirt meist bei meinen Auftritten (es war auch in der Tagesschau am 9.2.2020 und im Jahresrückblick 2020), weil ich genau das glaube…. ABER die Ehe ist (wie Martin Luther gesagt hat) „ein weltlich Ding“ und in einer säkularen Demokratie darf der Staat nicht diskriminieren – die eingetragene Partnerschaft ist keine Ehe, nicht nur des Wortes wegen, auch die Rechte sind anders. Ausserdem ist es ein „Zwangsouting“ bei der Wohnungssuche, bei der Arbeit… überall, wo der Zivilstand angegeben werden muss. Je nachdem, wohin jemand reisen will, könnte es ein Todesurteil sein – und wie gesagt, es geht niemanden etwas an, was ich zwischen den Beinen habe oder mit wem ich schlafe.

Ich weiss nicht, ob ich deine Fragen beantworten konnte, mir war einfach wichtig, diesen Teil meines Lebens nicht zu verstecken (und bald trete ich an einem Podium auf und wer weiss, was noch kommt..) – auf jeden Fall versuche ich nicht mehr, eine Frau zu sein (und will auch kein Mann sein, wollte ich nie, auch wenn ich mehr Chancen gehabt hätte als Theologe) – ich bin ich, ich bin queer und das ist gut so.

Ich bin froh, hast du gefragt und bin gespannt, wie unser Dialog weitergeht.

Alles LIebe,
Ann